Backstein, Solidarność & die Blechtrommel
Von Danzig erwarten wir uns irgendwie ganz viel. Vielleicht liegt das daran, dass wir bereits in Hamburg festgestellt haben, dass uns die nordischen Städte ganz besonders zu Gesicht stehen. Vielleicht liegt es auch an der "Blechtrommel" und "Katz und Maus", also im weiteren Sinnen an der Erzählkunst Günther Grass', die uns ein faszinierendes und sehr genaues Bild von der Stadt vermittelt hat, bevor wir sie mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen haben. Wir sind also voller Vorfreude, als wir uns von Warschau aus mit dem Mietauto gen Ostseeküste aufmachen, um die ehemalige Hansestadt und Hauptstadt der Woiwodschaft Pommern näher unter die Lupe zu nehmen.
Wir kommen im Hotel Beethoven unter, das klein und recht nett ist und in einer ruhigen Wohngegend etwas außerhalb der Innenstadt liegt. Von dort sind wir im Nullkommanix mit dem Bus beim Danziger Bahnhof, wo wir unsere Erkundungstour durch die Stadt starten.
In einem kleinen, aber feinen Park vor dem Altstädtischen Rathaus finden wir das Jan-Heweliusz-Denkmal, das den Astronomen in sitzender Position und gen Himmel blickend zeigt. Der in Danzig geborene Wissenschaftler gilt als Begründer der Selenographie - der Kartografie des Mondes. Ergänzt wird die Skulptur durch ein Wandbild an der Feuermauer des Nachbargebäudes, das den Sternenhimmel zur Zeit Heweliusz' zeigt.
Weiter geht es in Richtung Stadtzentrum und wir werden was unsere hohen Danzig-Erwartungen angeht wahrlich nicht enttäuscht. Die (backsteinernen) Bürgerhäuser werden immer mondäner und geben einen guten Eindruck, wie wohlhabend die Bürger der Hansestadt einst gewesen sein mögen. Besonders hervor sticht das Große Zeughaus aus dem 17. Jahrhundert, das früher als Waffenarsenal genutzt wurde und heute die Danziger Kunsthochschule beherbergt. Ganz hingerissen sind wir auch vom Straßenzug Piwna-Chlebnicka, der viel nordisches und seemännisches Flair verströmt.
Zu den Hauptsehenswürdigkeiten Danzigs zählt zweifelsohne die Marienkirche, die sich so ziemlich im geometrischen Zentrum der Danziger Altstadt befindet. Der gotische Bau hat enorme Ausmaße und gehört zu den größten Backsteinkirchen Europas. Sie ist reich mit Malereien und Skulpturen ausgestattet, außerdem beherbergt sie einige Grabstätten sowie ein Mahnmal, das an den Flugzeugabsturz bei Smolensk im Jahr 2010 erinnert. Weiters können eine astronomische Uhr aus dem 15. Jahrhundert sowie der Hauptaltar, der wohl das Werk eines Schülers Albrecht Dürers ist, bewundert werden. Das ultimative Highlight ist unserer Ansicht aber der Hauptturm, der über gut 400 Stufen erklommen wird. Der Blick über die vielen kleinen Türme der Kirche, die Backsteinhäuser der Altstadt und die ausgedehnten Werftanlagen im Hintergrund ist wirklich überwältigend. Der Kirchturm muss unserer Ansicht nach auf alle Fälle als Top-Spot ausgezeichnet werden.
Tipp: Top-Spot
Hinter der Marienkirche verläuft in Ost-West-Richtung die Marien- oder Frauengasse. Auch hier haben sich die Bürgerhäuser wieder besonders herausgeputzt. Die Beischläge - terrassenartige Vorbauten vor den Eingängen - sind typisch für sie. Obwohl die Gasse während des 2. Weltkriegs vollständig zerstört wurde, strahlt sie heute wieder in ihrem alten Glanz und man fühlt sich leicht in jenes goldene Zeitalter zurückversetzt, als hier wohlhabende Händler und Kaufleute lebten. Dies dürfte sich auch Franz-Peter Wirth gedacht haben, der in dieser Gasse 1979 den TV-Mehrteiler "Die Buddenbrocks" drehte.
Eine Besonderheit sind die vor den Bürgerhäusern aufgestellten kleinen Stände, in denen vor allem Bernsteinschmuck feil gebot wird. Die zugehörigen Läden befinden sich im Souterrain unter den Beischlägen.
Neben der Frauengasse gilt der Lange Markt als einer jener Plätze, wo sich in seiner Blütezeit Danzigs wohlhabende Bürger niederließen. Hier befinden sich das Rechtstädtische Rathaus mit seinem auffallenden Turm und eine Reihe anderer, repräsentativer Gebäude. Richtung Osten schließt das Grüne Tor den wunderschönen, belebten Platz ab.
Geht man hindurch, erreicht man die Grüne Brücke, von wo man einen herrlichen Blick über die darunter durchfließende Mottlau und ihre einladenden Uferzonen genießt. Das westliche Ufer heißt Lange Brücke und ist wieder gesäumt von ausnehmend prachtvollen Bürgerhäusern. Besonders fällt das Krantor auf, das zu seiner Zeit hervorragende Arbeit beim Be- und Entladen der davor angelegten Schiffe leistete, und heute als bekanntestes Wahrzeichen Danzigs gilt.
Früher war die Lange Brücke die Kaianlage des Danziger Hafens. Heute liegen hier aber nur mehr touristisch genutzte Ausflugsboote. Das ist zwar nicht authentisch, aber trotzdem ein guter Grund, alte Galeonen Marke "Fliegender Holländers" zu erhalten und zugänglich zu machen. Uns gefallen die alten Schiffe sehr gut und wir schätzen das Flair, das sie mit sich bringen.
Vor allem am Abend sind die Ufer an der Mottlau besonders stimmungsvoll. Das ist ein gutes Plätzchen um etwas am Wasser entlang zu flanieren, den Tag Revue passieren zu lassen und vielleicht noch ein Bierchen zu trinken. Der ruhige Fluss und die Backsteinhäuser bieten dafür eine wirklich traumhafte Kulisse.
Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass es in Danzig eine lebhafte Lokal-Szene gibt. Die Auswahl an Bars und Restaurants ist ungemein groß und abwechslungsreich, so dass wir uns kaum entscheiden können. In puncto Abendessen landen wir trotz der vielfältigen Möglichkeiten einen absoluten Volltreffer. Das Restaurant KOS in der Piwna ist so gut, dass wir gleich zweimal hingehen. In schönem Ambiente werden hier traditionelle, polnische Gerichte modern interpretiert. Wir probieren unter anderem die Ente, die wirklich hervorragend ist. Eine absolute Empfehlung!
Tipp: Restaurant KOS
Wie bereits erwähnt, legen von der Langen Brücke Ausflugsboote ab. Ein nicht ganz so schmuckes besteigen wir, um zur Westerplatte - einer an der Ostsee gelegenen Halbinsel nördlich von Danzig - zu fahren. Wir tuckern dabei die Mottlau bis fast zu ihrer Mündung entlang und durchqueren dabei die recht beeindruckenden Anlagen der Danziger Werft. Abgesehen von unendlich vielen Werftkränen sehen wir auch ein paar riesige - teils etwas abgetakelt aussehende - Ozeanriesen. Die sind sicher aus gutem Grund hier.
Der Grund, warum wir die Westerplatte besuchen, ist ein historischer. Sie gilt allgemein als der Ort, wo der 2. Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem Beschuss des polnischen Munitionslagers begonnen hat. Das Westerplatte-Denkmal aus den 60er Jahren erinnert daran, außerdem einige Souvenirstände, an denen Kriegsmemorabilia erworben werden können. Obwohl es hier im engeren Sinn nicht viel zu sehen gibt, finden wir doch, dass der Trip in Anbetracht der geschichtlichen Bedeutung des Ortes und vor allem in Kombination mit der Schifffahrt schon recht lohnend ist. Wir gehen eine Weile am Ufer der Ostsee spazieren und nehmen dann den Bus zurück in die Innenstadt.
Es gibt in Danzig noch einen weiteren geschichtsträchtigen Ort, den wir unbedingt besuchen müssen. Es ist dies das ehemalige Eingangstor zur Danziger Werft, das in etwa 1 Kilometer nördlich der Altstadt liegt und zu einem Symbol seiner Zeit wurde, als sich hier im Jahr 1980 Menschenmassen zu den sogenannten August-Streiks zusammenfanden. Die Streiks führten zur Entstehung einer sozialen Bewegung - der Solidarność - und gelten als Beginn einer Veränderung, die im Endeffekt den Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Polen und der gesamten UdSSR einleitete. Vorsitzender der Solidarność war der gelernte Elektriker Lech Wałęsa, der nach dem Ende des Kommunismus polnischer Staatspräsident wurde und Träger des Friedensnobelpreises.
Auf dem Platz vor dem Werfteingang befindet sich das beeindruckende Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter von 1970, das an die Toten erinnert, die es bei einem Arbeiteraufstand aufgrund massiver Preiserhöhungen im Jahr 1970 zu beklagen gab. Das Besondere daran ist, dass das Denkmal für die Opfer der kommunistischen Unterdrückung bereits 1980 - also noch zur Zeit des Kommunismus - aufgestellt wurde.
Seit 2014 befindet sich hier auch das Europäische Zentrum der Solidarität, in dem ein Museum, eine Bibliothek sowie ein Archiv untergebracht sind. Zudem nutzt Lech Wałęsa in dem Gebäude ein Büro.
Unsere Vor-Recherche zu Danzig hat ergeben, dass sich hier eine ganz besondere Sehenswürdigkeit befindet, die vielleicht nicht jedermanns Sache ist, unser Interesse aber auf jeden Fall geweckt hat. Am nördlichen Stadtrand - genauer gesagt im Stadtteil Przymorze befinden sich der längste Falowiec Polens. Ein Falowiec ist ein im Grundriss wellenförmiger Plattenbau, der in Danzig in den 60er und 70er Jahren öfter realisiert wurde. Der Name leitet sich vom polnischen Wort fala ab, was so viel wie Welle bedeutet. Der Bau an der Straße ul. Obrońców Wybrzeża ist der weitaus größte unter ihnen. Er ist 11 Stockwerke hoch, ca. 850 Meter lang und für 6000 Personen konzipiert. Da haben also locker die Bewohner einer Kleinstadt darin Platz. Wahnsinn, was das für Strukturen sind. Wir waren ja bereits von ähnlichen Bauwerken in Bratislava und Berlin beeindruckt, aber das hier stellt alles in den Schatten, was wir bislang plattenbautechnisch gesehen haben.
Der ebenfalls im Norden der Stadt gelegene Dom zu Oliva hat - was man auf den ersten Blick nicht glauben möchte - mit dem Falowiec etwas gemeinsam. Er ist zwar nur mickrige 107 Meter lang, aber trotzdem das längste Zisterzienser-Kirchengebäude der Welt. Außerdem fallen seine beiden Kirchtürme proportionsmäßig total aus dem Rahmen. Die beiden mit spitzen Dächern versehenen Türme scheinen sprichwörtlich in den Himmel zu ragen.
