Per Boot & pedes durchs Venedig des Nordens
Da Vera und Carel auch heute arbeiten müssen, starten wir noch einmal zu zweit los. Von Brüssel geht es diesmal per Zug nach Brügge. Da das Städtchen fast an der Nordseeküste liegt, dauert die Fahrt diesmal ein wenig länger. Eine gute Stunde sind wir unterwegs, bis wir in der westflämischen Stadt auf dem Bahnsteig stehen.
Obwohl die gesamte Belgien-Reise ja eher eine spontane Aktion ist, haben wir uns doch ein bisschen informiert und somit gerade in Bezug auf Brügge eine eher hohe Erwartungshaltung. Die mittelalterliche Stadt war einst ein bedeutendes Handelszentrum und gilt als eine der Geburtsstätten des Kapitalismus. Dass dies in Hinblick auf das Stadtbild nicht unbedingt was Schlechtes ist, haben wir in Venedig bereits gesehen. Auch Brügge soll eine wirtschaftlich und kulturell außergewöhnlich reiche Stadt gewesen sein. Zudem wurde sie nie durch Kriege oder Brände zerstört, wodurch das mittelalterliche Stadtbild weitgehend bis heute erhalten geblieben ist.
Um sich selbst ein Bild davon zu machen, sind nur ein paar Schritte notwendig, da der Bahnhof sehr zentral liegt und direkt an die Altstadt anschließt. Bei strahlendem Herbstwetter ziehen wir also los. Der konzentrisch aufgebaute Stadtkern ist ringförmig von einem Wassergraben umgeben, zudem wird die gesamte Innenstadt von Kanälen durchzogen, die auch Reien genannt wurden, was vom Namen des Flusses Reie herrührt. Wir finden hier das erste Mal die Bezeichnung "Venedig des Nordens" gerechtfertigt.
Wir gehen über die Begijnhofbrücke zum Beguinenhof. Ähnliche Höfe finden sich in vielen belgischen Städten und dienten früher den Beginen als Wohnstätte. Sie führten eine Art klösterliches Leben dort, waren aber nicht durch ein Gelübde an die Institution gebunden.
Über die Maria-Brücke geht es weiter Richtung Liebfrauenkirche. Der Bau wird der Backsteingotik zugerechnet und teils als Kirche, teils als Museum genutzt. Besonders erwähnenswert ist, dass das Gebäude die Heimstätte eines echten Michelangelos ist. Eine ursprünglich für den Dom von Siena bestimmte Skulptur wurde dann doch an reiche Brügger Kaufleute verkauft und landete schließlich hier.
Hinter der Liebfrauenkirche führt die Bonifacius-Brücke über einen schmalen Kanal. Der Ort gilt als einer der romantischsten in Brügge. Einer Legende nach "wird der erste Mann, den sie trifft, ihr Ehemann, wenn eine unverheiratete Jungfrau die Brücke überquert" (Quelle: tropter.com). Eine weitere Legende rankt sich ungewollterweise um das Alter der Brücke. Sie gilt als die älteste der Stadt, ist aber - da sie erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut wurde - wahrscheinlich sogar eine der jüngsten.
Über die Gruuthusebrug gehen wir weiter zur zentral gelegenen Uferpromenade Dijver. Wir sind zwar erst eine Stunde in Brügge, aber bereits so von dem mittelalterlichen Flair berauscht, dass wir ungesehen bereit sind, uns auf eine echte Touristen-Falle einzulassen. An den zahlreichen Kanälen gibt es noch zahlreichere Bootsanlegestellen, wo man sich zu einem horrenden Preis für eine 30-minütige Rundfahrt in einen kleinen Kahn verstauen lassen kann. So dachten wir zumindest ...
Tatsächlich stellt sich heraus, dass die Bootsfahrten ziemlich vernünftig bepreist sind. Mit 8 €/Person sind wir schon dabei und so überlegen wir auch gar nicht lange. In Windeseile sitzen wir in einem der Boote und los geht's. Ganz ohne Sarkasmus müssen wir eingestehen, dass die Fahrt über die Kanäle wirklich toll ist. Vom Wasser aus eröffnen sich noch einmal ganz neue Perspektiven. Man bekommt viele tolle, mittelalterliche Bürgerhäuser auch von der teils nicht anders zugänglichen Wasserseite aus zu sehen, und ziemlich spaßig ist die Fahrt obendrein. Da Brügge auch nicht sooo groß ist, durchfährt man in einer guten halben Stunde wirklich das gesamte Innenstadtgebiet und erhält einen guten Gesamtüberblick. Alles in allem können wir sagen: "Bootsfahrt machen ... und sterben?".
Um das Niveau, das die Bootsfahrt vorgelegt hat, zumindest in etwa zu halten, gehen wir als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben zu dem ultimativen Foto-Spot in Brügge. Dieser befindet sich am Rozenhoedkaai und bietet die typische Postkartenansicht inkl. mittelalterlichem Belfried, Wasserkanal und romantischer Trauerweide. Das Sahnehäubchen ist dann noch das Ausflugsboot, das hier dekorativ entlangschippert. Selbstredend ist hier eine Auszeichnung angebracht.
Tipp. Postkartenmotiv
Zu Fuß erreichen wir den Burgplatz, den wir - da er an keinen Kanal grenzt - vom Wasser aus noch gar nicht gesehen haben. Ihn umgeben einige bedeutende Brügger Gebäude, wie beispielsweise das Rathaus, das daneben liegende Gerichtsgebäude, sowie die Heilig-Blut-Basilika.
Letzere sehen wir uns auch von Innen an. Nomen est omen beherbergt die Kirche die Heiligblut-Reliquie, die ihrerseits eine der bedeutendsten Europas ist. Die sagenumwobene Ampulle soll beim zweiten Kreuzzug in Jerusalem erbeutet und anschließend nach Brügge gebracht worden sein. Zu Christi Himmelfahrt wird sie durch die ganze Stadt getragen. Wir sind nicht böse, dieses Spektakel nicht miterleben zu können.
Im Zentrum Brügges liegt der Grote Markt. Seit dem Mittelalter diente er als Marktplatz sowie Ort für Großveranstaltungen, Turniere und Hinrichtungen. Das herausragendste Gebäude auf dem Platz ist zweifelsohne der im 13. Jahrhundert errichtete 83 Meter hohe Belfried, der aufgrund seiner enormen Höhe von fast jedem Ort in Brügge zu sehen ist. Im Mittelalter war er ein Zeichen der selbstbewussten, reichen Stadtbürger und auch heute noch darf ihn kein neu errichtetes Bauwerk überragen.
Da sich die Gelegenheit bietet, schließen wir uns auf dem Grote Markt der ersten Free Walking Tour unseres Lebens an. Diese führt uns in etwa 2 Stunden durch die gesamte Stadt. Wir kommen dabei zwar an einigen Punkten vorbei, an denen wir schon gewesen sind, dafür bekommen wir von unserem engagierten Führer aber viele skurrile und phantastische Geschichten aufgetischt, die sich auch in keinem Reiseführer finden. Das Publikum wird auf lustige Weise in die Führung eingebunden, wodurch sie sehr kurzweilig ist. Wir sind von nun an Fans des Konzepts Free Walking Tour!
Einen wunderschönen Blick auf die Liebfrauenkirche haben wir von einer Art Uferpromenade neben der Zonnekemeers. Einer der Kanäle ist dort aufgeweitet und bildet eine dekorative Kulisse für den Kirchturm.
Zum Abschluss der Free Walking Tour bekommen wir noch einen Bier-Gutschein in die Hand gedrückt. Das Lokal, in dem dieser einzulösen ist, liegt praktisch auf dem Weg zum Jan van Eyckplein, wo wir ohnehin noch einmal hinwollten. Da es sich so gut trifft, gehen wir also noch in die Kellerbar "Le Trappiste" und lassen uns dort unter mittelalterlichen Gewölben ein belgisches Bier schmecken.
Danach schauen wir uns den Jan van Eyckplein noch vom Land aus an, vom Wasser aus haben wir ihn schon bei der Bootstour gesehen. Abgesehen von dem Standbild des berühmten Malers gibt es dort einige besonders schöne Bürgerhäuser zu bestaunen.
Zurück zum Bahnhof gehen wir durch die Zuidsandstraat. Das ist zwar eine wenig berauschende Einkaufsstraße, aber auch hier schafft es Brügge, dass sich die modernen Geschäfte und Lokale angenehm in die mittelalterliche Struktur integrieren. Und sogar die moderneren Wohngebäude am Rand der Innenstadt sind Teil des Ensembles und lehnen sich in ihren Grundzügen an die historische Bebauung an.
Unser Fazit: Trotz einsetzendem Overtourism finden wir das Städtchen ganz bezaubernd. Irgendwie hat bei unserem Besuch einfach alles gepasst. Die tolle Mittelalterkulisse, das milde Herbstwetter, Waffeln und Bier tragen zu einem für uns wunderschönen Tag bei. Da sehen wir gerne über das ein oder andere lästige Selfie-Shooting hinweg.